Februar 2025

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Sanfter Einstieg für Frühgeborene

Manchmal hängt das Leben nicht an einem seidenen Faden, sondern im wahrsten Sinne an einem dünnen Schlauch. Frühgeborene erhalten durch ihn eine lebensrettende Substanz; dies erspart ihnen eine maschinelle Beatmung mit teils schweren Nebenwirkungen.

Dr. Angela Kribs und eine Krankenschwester stehen an einem Inkubator mit einem Frühgeborenen.

Dr. Angela Kribs zeigte in einer Studie, wie Frühchen besonders schonend mit einem wichtigen Medikament versorgt werden können.

MedizinFotoKöln, D. Hensen

An diesen Fall wird sich Dr. Angela Kribs immer erinnern. Sie war damals junge Kinderärztin am Universitätsklinikum Köln, heute leitet sie dort den Schwerpunkt Neonatologie und ist als Privatdozentin an der Ausbildung der Medizinstudierenden beteiligt. „Der Junge kam viel zu früh zur Welt – bereits in der 23. Woche. Damit war es ein Hochrisikofall“, beschreibt sie die angespannte Situation. „Er atmete zwar eigenständig, konnte aber nicht genug Sauerstoff aufnehmen, um zu überleben.“ Nach der damaligen Standardtherapie hätte er maschinell beatmet werden müssen: über einen steifen, in die Luftröhre eingeführten Schlauch, der die eigenständige Atmung unterbricht. Ein lebensrettender Eingriff, der aber zu schweren Komplikationen führen kann, beispielsweise zu Hirnblutungen oder Verletzungen der Atemwege.

„Das Wissen über mögliche Komplikationen hat den Eltern große Sorgen bereitet. Sie wollten daher die Intubation vermeiden, ihr Kind aber trotzdem bestmöglich versorgt wissen“, erklärt Kribs. Über den Intubationsschlauch wird allerdings nicht nur Sauerstoff, sondern auch Surfactant in die Lunge des Frühgeborenen geleitet. Surfactant ist eine Substanz, die reife Lungen natürlicherweise bilden, um ausreichend Sauerstoff aufnehmen zu können. Die Lunge von Frühgeborenen kann Surfactant noch nicht selbst herstellen und ist auf die künstliche Zufuhr angewiesen. „Die Eltern waren hin- und hergerissen. Die Surfactant-Gabe wollten sie für ihr Kind. Aber sie hatten auch große Angst, dass die Intubation eine Spirale der Intensivmedizin auslöst“, erinnert sich Kribs. „Wir brauchten also dringend eine schonendere Methode, um die lebensrettende Substanz in die Lunge zu leiten.“

Portrait eines Frühgeborenen.

Nur wenige Gramm Körpergewicht, aber ganz viel Lebenswillen – Portrait eines Frühgeborenen.

MedizinFotoKöln, D. Hensen

Die Kinderärztin schlug eine alternative Behandlung vor, die auch die Eltern überzeugte: Über einen sehr dünnen Schlauch, der eigentlich als Magensonde verwendet wird, leitete sie das Surfactant in die Luftröhre des Frühgeborenen und gab über eine Nasenmaske zusätzlich Sauerstoff. Der Erfolg dieses deutlich schonenderen Ansatzes sprach für sich: Das Kind überstand den Eingriff gut, entwickelte sich in den Wochen danach problemlos und ist heute ein gesunder junger Mann von 23 Jahren.

Der Erfolg: Bundesweite Bestätigung der neuen Therapie

In der Klinik konnte die junge Kinderärztin mit ihrem Team schnell zeigen, dass ihr Ansatz vielen betroffenen Kindern die maschinelle Beatmung ersparen konnte. Rasch sprach sich der Erfolg herum. Kolleginnen und Kollegen anderer Frühgeborenen-Zentren wendeten die Methode ebenfalls an und bestätigten die Ergebnisse aus Köln. So zeigten deren Daten beispielsweise, dass die Anwendung der weniger invasiven Methode der Surfactant-Gabe mit einer deutlich geringeren Rate an schweren Hirnblutungen verbunden war als die Standardtherapie.

Heute, 20 Jahre später, ist das Verfahren in der Praxis angekommen, national und international in medizinische Leitlinien eingegangen und fester Bestandteil bei der Versorgung von Frühgeborenen. Wie das gelungen ist? „Man muss wirklich überzeugt sein von der eigenen Idee. Nur dann gelingt es, auch andere zu überzeugen – Kolleginnen und Kollegen, Eltern, aber auch potenzielle Förderer“, erklärt die Privatdozentin.

Atemnotsyndrom

Das Atemnotsyndrom tritt bei etwa 60 Prozent der Frühgeborenen auf und dies umso häufiger, je unreifer die Kinder sind. Bei Frühgeborenen mit einem Schwangerschaftsalter unter 28 Wochen sind etwa 90 Prozent der Kinder betroffen. Die übliche Therapie war lange Zeit die künstliche maschinelle Beatmung sowie Gabe des lebensnotwendigen Surfactant über einen permanent in der Luftröhre liegenden Schlauch. Dabei kann es ungewollt zu schweren Nebenwirkungen kommen, vor allem Hirnblutungen und Verletzungen der Atemwege sowie Atemwegserkrankungen im späteren Leben. Auch können Verletzungen der Atemwege beim Einführen dieses Schlauchs auftreten. Im Projekt NINSAPP entwickelte Dr. Angela Kribs ein Verfahren, das mit deutlich weniger maschineller Beatmung auskommt; das Surfactant wird stattdessen über einen feinen weichen Schlauch gegeben und die Spontanatmung über eine Atemmaske unterstützt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte das Projekt von 2008 bis 2012 mit fast 600.000 Euro.

Der Beweis: International wissenschaftliche Anerkennung

„Trotz der ersten Erfolge in der Praxis war es zunächst nicht einfach, Fördermittel für eine wissenschaftlich fundierte klinische Studie einzuwerben“, berichtet Kribs. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erkannte aber das Potenzial ihres Ansatzes und förderte ihr Projekt. „Darüber haben wir uns sehr gefreut und konnten loslegen“, erinnert sich die Wissenschaftlerin. In ihrer Studie konzentrierte sie sich auf Kinder, die zwischen der 23. und 26. Woche geboren wurden und damit am meisten gefährdet sind. Auch in dieser Studie konnte gezeigt werden, dass eine maschinelle Beatmung bei Anwendung der neuen Methode deutlich seltener erforderlich war, weniger Hirnblutungen und Lungenprobleme auftraten. Die Zahl der Kinder, die ohne Komplikationen überlebte, stieg signifikant. Studien von Professor Dr. Wolfgang Göpel, Neonatologe an der Universität zu Lübeck, zeigten ähnliche Erfolge bei etwas älteren Frühgeborenen. Gemeinsam veröffentlichten die beiden Forschenden ihre Ergebnisse und lösten auch international großes Interesse aus, sodass etliche weitere wissenschaftliche Studien durchgeführt wurden. 2022 zeigte eine große internationale Übersichtsstudie, dass alle bis dahin durchgeführten Forschungsarbeiten die Wirksamkeit der Methode bestätigen.

Die Nachhaltigkeit: Auch langfristig bessere Entwicklung der Neugeborenen

Auch in Untersuchungen, die die weitere Entwicklung der Frühgeborenen in Augenschein nahmen, erwies sich das Verfahren als erfolgreich. Wichtige Ergebnisse lieferte das Deutsche Frühgeborenen Netzwerk, das Daten über die Entwicklung von Frühgeborenen in den Jahren nach der Geburt sammelt und auswertet. Positive Ergebnisse ergab auch die bisher größte Studie über die weitere Entwicklung der Frühchen, die von einer australischen Forschergruppe initiiert wurde. Sie zeigte, dass die Kinder, die Surfactant über den weichen und sehr dünnen Schlauch bekommen hatten, im Alter von zwei Jahren insgesamt gesünder waren und seltener wegen Atemwegserkrankungen in ein Krankenhaus überwiesen werden mussten als herkömmlich behandelte Kinder. Nachuntersuchungen bei inzwischen Sechsjährigen ergaben, dass die höhere Überlebensrate der Kinder, die mit der neuen Methode behandelt worden waren, nicht mit einer höheren Rate an langfristigen Beeinträchtigungen einherging. Es zeigte sich im Gegenteil sowohl für die Gesamtentwicklung als auch für die Lungenfunktion ein Trend zu besseren Ergebnissen, wenn auch nicht statistisch signifikant. „Insofern hat unser Verfahren auch gesundheitsökonomisch eine große Bedeutung“, betont die Kinderärztin. In den europäischen Leitlinien wird das Verfahren inzwischen als „anzustrebende Applikationsvariante“ empfohlen, und auch in Deutschland verweist die entsprechende Leitlinie auf das Verfahren aus Köln.

Deutsches Frühgeborenen Netzwerk

Das Deutsche Frühgeborenen Netzwerk erfasst Daten von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm, um in den Jahren nach der Geburt die Langzeiteffekte genetischer, klinischer und sozialer Risikofaktoren zu untersuchen. Zudem wertet es den Einfluss der unterschiedlichen Behandlungsstrategien an deutschen Frühgeborenenzentren aus und unterstützt wissenschaftliche Studien. Das Netzwerk wird von Professor Dr. Wolfgang Göpel geleitet und ist am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein angesiedelt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte den Aufbau und die Arbeit des Netzwerks zwischen 2008 und 2022 mit rund sieben Millionen Euro.

Der Alltag: Das Gesamtpaket muss stimmen

Bei ihrem ersten Fall benutzte Kribs noch eine Magensonde, um das Neugeborene mit dem lebenswichtigen Surfactant zu versorgen. Heute gibt es dafür einen dünnen weichen Katheter, der speziell für die Anwendung bei Frühgeborenen hergestellt wird. Doch der feine Schlauch allein macht den Erfolg nicht aus: „Das Gesamtpaket muss stimmen“, betont die Ärztin und erklärt: „Unser primäres Ziel ist, die Schwangerschaft zu verlängern und das Frühgeborene möglichst groß werden zu lassen – vielleicht so groß, dass es all die Unterstützung gar nicht mehr braucht.“ Die Schlüsselrolle spiele der Faktor Zeit und die Zusammenarbeit mit Geburtshelferinnen und -helfern und Anästhesistinnen und Anästhesisten, damit die Mutter gut auf die Geburt vorbereitet ist, das Kind wach zur Welt kommt und „ganz sanft landet“. Nur etwa 15 Prozent der Frühgeborenen müssten dann noch beatmet werden, „das sind in der Regel die Babys, die vor oder in der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen“, ergänzt Kribs. Und um genau die kümmert sich dann die engagierte Kinderärztin mit ihrer schonenden Methode.

Als Nächstes plant Kribs eine Studie mit der ersten Gruppe von Frühgeborenen, die sie seinerzeit behandelt hat. Bei den heute Anfang 20-Jährigen will sie die Funktion von Lungen und Herzkreislauf bis hin zur allgemeinen körperlichen Fitness testen. Natürlich hofft die erfahrene Kinderärztin, dass alle jungen Leute gesund sind und nur noch sie selbst sich an deren allzu frühen Start ins Leben erinnert.