Therapien in der virtuellen Welt – das ist schon heute Realität. Künftig sollen KI und Avatare solche Therapien stärker personalisieren. Zudem sollen sie Routineaufgaben in der Versorgung übernehmen können, um Ärztinnen und Ärzte zu entlasten.

Sprechstunde bei Dr. Avatar: Virtuelle Assistenten könnten zukünftig einfache Standard- und Routinearbeiten übernehmen und durch Mimik und Gestik ein Gefühl von Vertrautheit vermitteln.
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Viele Technologien, die heute alltäglich sind, waren einst Science Fiction – vom Handy bis zur Datenbrille. Medizinische holografische Notfallprogramme gibt es auch heute noch nicht. Doch an den Grundlagen von durch Künstliche Intelligenz (KI) gesteuerten virtuellen Assistenten oder menschgesteuerten Avataren, die Gesundheitsexpertinnen und -experten unterstützen, wird längst gearbeitet. Wie kann die Interaktion von Patientinnen und Patienten mit virtuellen Doppelgängern der Behandelnden die Versorgung künftig verbessern? Und wie lassen sich KI-gesteuerte Assistenten in Psychotherapien integrieren, die in der virtuellen Dimension stattfinden?
Avatare können die Versorgung deutlich erleichtern – beispielsweise in ländlichen Regionen. Und virtuelle Assistenten, die Routineaufgaben übernehmen, entlasten das Fachpersonal und verkürzen Wartezeiten auf Praxis- oder Behandlungstermine.
Professor Dr. Frank Steinicke
Künstliche Intelligenz steuert virtuelle Assistenten
Der Informatiker Professor Dr. Frank Steinicke leitet die Forschungsgruppe Mensch-Computer-Interaktion am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg und das Projekt HIVAM – „Hybride Intelligente Virtuelle Avatar/Assistent-Modelle zur Unterstützung (Tele-)medizinischer Beratung und Behandlung“. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert HIVAM von 2022 bis 2025 mit rund zwei Millionen Euro. Mit einem interdisziplinären Team aus den Bereichen Informatik, Medizin und Sozialwissenschaften entwickelt Steinicke virtuelle 3D-Menschmodelle. „In Verbindung mit einem Chatbot und KI verwandeln wir diese 3D-Hüllen in intelligente virtuelle Assistenten – kurz IVA“, so Steinicke.
Die IVA sollen mit Patientinnen und Patienten selbstständig kommunizieren und Standardaufgaben übernehmen, etwa das Ausfüllen von Anamnesebögen. „Ärztinnen und Ärzte gewinnen so mehr Zeit für jene Aufgaben, die ihre fachliche Expertise wirklich erfordern“, erklärt Steinicke. Die virtuellen Vertreter sollen möglichst realistisch wirken. „Nicht nur Sprache, sondern auch Mimik, Gestik oder Stimmlage sollen emotional und empathisch wirken. Nur so können sie eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, die für das Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt auch in der analogen Welt so wichtig ist“, sagt Steinicke.
Avatare: Gesteuert von realen Gesundheitsexpertinnen und -experten
Werden 3D-Menschmodelle nicht von einer KI, sondern von Menschen gesteuert, werden sie zu Avataren. „Beide Systeme – KI-gesteuerter IVA und menschgesteuerter Avatar – können nahtlos ineinander übergehen“, so Steinicke. „Wenn etwa ein IVA im Rahmen der Anamnese in den Angaben einer Patientin Hinweise auf einen schnellen Handlungsbedarf erkennt, informiert das System sofort die Ärztin oder den Arzt. Diese schlüpfen dann am Computer in ihre virtuelle Hülle, ohne dass deren Gegenüber den Wechsel vom KI-gesteuerten System – dem IVA – zum menschgesteuerten Avatar bemerken muss“, so Steinicke weiter. Bleibt das IVA-Patient-Gespräch auf reinem Routineniveau, geht der IVA den Fragebogen bis zum Ende durch und vereinbart – falls sinnvoll oder gewünscht – einen Termin, entweder vor Ort in der Praxis oder einen Online-Termin mit dem Avatar der behandelnden Fachkraft. Später schauen sich die Gesundheitsexpertinnen und -experten die Systemprotokolle am Rechner an. Sie prüfen die Entscheidungen und Einschätzungen der IVA und wenden sich bei Bedarf mit Rückfragen an die Patientinnen und Patienten.
Unsere unternehmerische und klinische Expertise stellt die künftige Produktfähigkeit der entwickelten virtuellen Assistenten sicher.
Julian Angern
Medizinische Online-Plattformen: Jederzeit erreichbare IVA
Für all diese Kontakte entwickelt das Team um Steinicke eine Online-Plattform. Nicht nur per Computer, auch per Handy können sich die Beteiligten dort einloggen, mit einem IVA sprechen oder per Datenbrille in ein virtuelles Gespräch eintauchen. Alle für ihre Versorgung wichtigen Vitaldaten können Patientinnen und Patienten ebenfalls auf der Plattform ablegen, vom Blutdruck bis zum Körpergewicht – rund um die Uhr und von jedem Ort.
„Unsere IVA und Avatare sind natürlich Prototypen“, betont Steinicke. „Wir wollen zeigen, dass die Szenarien technisch und medizinisch funktionieren.“ Im Austausch mit allen beteiligten Akteuren reflektieren die Forscherinnen und Forscher auch, ob die moralisch-ethischen Grundsätze der medizinischen Berufspraxis mit der Nutzung der neuen Technologien im Einklang stehen und welche Grenzen zu beachten sind. Ebenso erforschen sie in empirischen Feldstudien, ob und in welchem Grad Patientinnen und Patienten den IVA und Avataren in der virtuellen Dimension vertrauen. „Die frühzeitige Partizipation Betroffener in der Forschung ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Dabei untersuchen wir auch, ob Menschen mit oft als peinlich empfundenen Erkrankungen sich einem IVA eher anvertrauen als einem Menschen“, so Steinicke.

Angst vor dem U-Bahn-Fahren: Patientinnen und Patienten werden bei der Angsttherapie der Sympatient GmbH durch Videosequenzen in einer VR-Brille Schritt für Schritt mit angstauslösenden Reizen konfrontiert. In Zukunft könnte ihnen dabei auch ein Avatar ihres Therapeuten zur Seite stehen, der individuell auf ihre Bedürfnisse reagiert.
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Personalisierte virtuelle Therapien
Entwicklungen aus dem HIVAM-Projekt sollen Behandlungen verbessern, die schon jetzt Teil der Versorgung sind: etwa Therapien zur Angstbewältigung. Für diesen Transfer arbeitet HIVAM mit einschlägigen Unternehmen wie der Sympatient GmbH zusammen. „Als Ergänzung klassischer psychotherapeutischer Sitzungen haben wir auf der Basis virtueller Realität neuartige Therapien entwickelt. Sie helfen den Betroffenen per App und VR-Brille zum Beispiel, ihre Platzangst zu überwinden – ob an öffentlichen Plätzen oder in der Supermarktschlange“, sagt der Psychologe und Sympatient-Mitbegründer Julian Angern.
Die VR-Technik verschafft den Betroffenen ein hohes Maß an Flexibilität. Sie können ihr Training zu jeder Zeit durchführen – und das beliebig oft. Zugleich entlasten digitale Therapien die engen Zeitkontingente der Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Als Alternative zur realen Expositionstherapie sind VR-Therapien seit 2020 als digitale Gesundheitsanwendungen zugelassen. Auf Rezept verordnet übernehmen alle gesetzlichen Krankenkassen die Kosten.
Künftig will das Team um Angern IVA in diese Therapiemodelle integrieren. „Mithilfe KI-gesteuerter Assistenten sollen Angsttherapien flexibler auf die Wünsche und Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten reagieren“, so Angern. Zudem soll die Präsenz empathischer IVA das Vertrauen der Behandelten in die Therapie steigern und ihnen helfen, sich auf die Situation einzulassen. „So wollen wir Therapieabbrüche vermeiden und die Zahl derer erhöhen, die nach der Therapie keine Anschlussbehandlung benötigen“, so Angern.
Nachgefragt
KI, Avatare und Datenbrillen in Diagnostik,
Beratung und Therapie
Wie entstand die Idee, virtuelle Assistenten in der Medizin einzusetzen?
Frank Steinicke: Die Coronapandemie hat den Bedarf an einer Diagnostik ohne Ansteckungsgefahr drastisch verdeutlicht. Dafür wollten wir virtuelle Lösungen finden, die reale Mensch-Mensch-Kontakte simulieren. Denn wer medizinischen Rat sucht, der will sich aufgehoben fühlen, muss vertrauen. Das brachte uns auf KI und Avatare. Dabei geht es uns aber nicht mehr nur um Infektionsschutz oder Betreuung in der Quarantäne. Wir wollen zeigen, wie IT-Lösungen im Alltag die Versorgung von Menschen mit eingeschränkter Mobilität erleichtern, wie sie lokale Mängel an Spezialistinnen und Spezialisten kompensieren oder Wartezeiten auf Behandlungen verkürzen können. Virtuelle Assistenten können Behandelnde natürlich nicht ersetzen, aber Vor-Ort-Behandlungen und -Beratungen sinnvoll ergänzen.
Wie kam die virtuelle Realität in die Psychotherapie?
Julian Angern: Auf der Station für Angstbehandlung habe ich viele Angstpatientinnen und -patienten in der Behandlung begleitet. Und erlebt, wie wichtig und aufwendig es ist, sie im Klinikalltag durch die Konfrontation mit angstauslösenden Reizen zu behandeln. 2016 kam dann das erste kommerzielle Geräteset für Computerspiele in der virtuellen Realität auf den Markt, mit VR-Brille und Controller. Neue Technik für den medizinischen Fortschritt zu nutzen, das war schon immer mein Anspruch. Und so begann ich, zu programmieren und Videosequenzen zu nutzen, um therapeutische Expositionen per VR-Brille erlebbar zu machen. Der Ansatz wurde am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein wissenschaftlich untersucht. Aus dieser Studie ging 2017 als Start-up die Sympatient GmbH hervor. Als Entwickler und Anbieter digitaler Psychotherapie gewannen wir 2019 den Hamburger Gründerpreis.