Februar 2025

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Alport-Syndrom: Ein Medikament hilft nierenkranken Kindern

Der Wirkstoff Ramipril verzögert den Krankheitsverlauf beim nierenschädigenden Alport-Syndrom – und bewahrt die jungen Patientinnen und Patienten so für viele Jahre vor der Dialyse.

Eine früh behandelte (links) und eine geschädigte Niere mit Alport-Syndrom (rechts) im Vergleich. Die Vernarbungen der geschädigten Niere sind grün eingefärbt.

Eine früh behandelte (links) und eine geschädigte Niere mit Alport-Syndrom (rechts) im Vergleich. Die Vernarbungen der geschädigten Niere sind grün eingefärbt.

Professor Dr. Oliver Gross, Universitätsmedizin Göttingen

Seit mehr als 20 Jahren sucht Professor Dr. Oliver Gross nach einer wirkungsvollen Therapie für Kinder mit dem Alport-Syndrom, einer erblichen Erkrankung des Bindegewebes. Diese genetisch bedingte Erkrankung führt zu Seh- und Hörstörungen, besonders betroffen sind aber die Nieren. Sie vernarben zunehmend und können den Körper nicht mehr von schädlichen Substanzen und überflüssigem Wasser befreien. Unbehandelt müssen sich die Betroffenen daher meist schon im jungen Erwachsenenalter aufwendigen Dialyseverfahren unterziehen – oder auf eine Spenderniere hoffen.

Dank der Forschungsarbeiten des Göttinger Nephrologen gibt es nun Hoffnung für die betroffenen Kinder: Mit der Early-Protect-Alport-Studie konnte Gross nachweisen, dass der Wirkstoff Ramipril das Fortschreiten der Erkrankung deutlich verzögert – und bereits bei Kindern ab einem Alter von zwei Jahren sicher angewendet werden kann. Ihnen bleibt der Gang zur Dialyse so über viele Jahre erspart. Im Interview spricht Gross über seine Motivation, sich mit dieser Seltenen Erkrankung zu beschäftigen – und darüber, welche Schritte er als Nächstes plant.

Grafik mit Informationen zu Seltenen Erkrankungen durch eine Lupe betrachtet.

Herr Professor Gross, was war für Sie der Grund, sich so intensiv mit dem Alport-Syndrom zu beschäftigen?

Ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass wir den Kindern nicht helfen konnten. Wir waren zwar in der Lage, das Alport-Syndrom sehr früh zu diagnostizieren – konnten diesen Vorteil dann aber nicht für die Behandlung nutzen. Die Konsequenz war, dass wir den Eltern sagen mussten: Es tut uns leid, aber wir sehen uns in zehn Jahren in der Dialyse wieder.

Was waren Ihre nächsten Schritte?

Wir haben zunächst am Alport-Syndrom erkrankte Mäuse mit einem blutdrucksenkenden Medikament behandelt, das den Wirkstoff Ramipril enthielt – und konnten so das Nierenversagen der Tiere deutlich hinauszögern. Ähnliche Erfolge erzielten wir auch bei der Behandlung von erwachsenen Patientinnen und Patienten mit Ramipril. 2012 starteten wir dann die durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Early-Protect-Alport-Studie.

Welche Fragen wollten Sie mit dieser Studie beantworten?

Blutdrucksenker wie Ramipril sind für Kinder und Jugendliche nicht zugelassen. Aus der Not heraus haben aber Kinderärzte diese Medikamente eingesetzt, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch keine gesicherten Daten zu Wirkung und Nebenwirkungen vorlagen. Diese Daten wollten wir liefern.

Neue Einsatzbereiche für etablierte Medikamente

Wirkt ein bereits zugelassenes Medikament auch bei anderen Erkrankungen? Diese Frage stellen sich Forschende weltweit – und nicht nur bei Nierenerkrankungen. In der Fachwelt ist dieser Ansatz unter dem Begriff „Drug Repurposing“ bekannt. Der große Vorteil liegt darin, dass wichtige Nachweise für dieses Medikament – insbesondere zur Sicherheit – bereits erbracht wurden. Das spart enorme Kosten und viel Zeit, die sonst für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden müssen.

Dank der Early-Protect-Alport-Studie wissen wir heute, dass die Medikamente auch bei Kindern ab zwei Jahren sicher angewendet werden können. Und wir wissen, dass diese Kinder von einem frühen Therapiestart profitieren, wenn wir bereits mit der Behandlung beginnen, bevor erste Nierenschäden auftreten. So können wir die Dialyse um viele Jahre – bei einigen sogar um Jahrzehnte – hinauszögern.

Das ist ein großer Erfolg für die Betroffenen und ihre Angehörigen.

Ja, die Dialyse schränkt die Lebensqualität enorm ein und führt häufig dazu, dass bereits junge Menschen keinen Beruf ausüben und am sozialen Leben nur eingeschränkt teilnehmen können. Da das Alport-Syndrom eine erbliche Erkrankung ist, kennen viele Eltern dieses Schicksal bereits: Denn sie haben oft bereits einen nahen Verwandten, der auf die Dialyse angewiesen ist – und wissen, wie sehr das die gesamte Familie belastet.

Studien, die neue Einsatzbereiche für bereits zugelassene Medikamente erschließen, werden häufig von der Pharmaindustrie finanziert. Warum nicht in diesem Fall?

Mit den Ergebnissen der Early-Protect-Alport-Studie lassen sich keine wirtschaftlichen Gewinne erzielen. Das liegt zum einen daran, dass Ramipril ein alter Wirkstoff ist, für den kein Patentschutz mehr besteht. Zum anderen ist das Alport-Syndrom eine Seltene Erkrankung, sodass es für die Industrie nur einen kleinen Markt gibt.

Ramipril ist ein sehr preiswerter Wirkstoff, die Behandlung kostet weniger als 100 Euro im Jahr. Das birgt einen weiteren enormen Vorteil, denn es ist keine Therapie, die nur in reichen Ländern angewendet werden kann. Sie kann allen Kindern weltweit helfen!

Welche Herausforderungen gehen mit Studien einher, die eine so Seltene Erkrankung wie das Alport-Syndrom untersuchen?

Portrait von Prof. Dr. Oliver Gross

Professor Dr. Oliver Gross

BMBF

Die Early-Protect-Alport-Studie hatte zwei Herausforderungen zu bewältigen: Zum einen unterliegen Studien mit Kindern strengsten Sicherheitsregeln. Und zum anderen gibt es nur wenige Erkrankte, und es ist daher schwierig, genügend Studienteilnehmende zu gewinnen. Wir mussten die Studienmethodik an diese schwierigen Umstände anpassen. Das gelang unserem leitenden Statistiker Professor Dr. Tim Friede, dem Direktor des Instituts für Medizinische Statistik in Göttingen. Er entwickelte für die Studie ein sogenanntes adaptives Design, in dem viele kleine Beweisstücke wie ein Puzzle zusammengesetzt werden – unter Fachleuten ist dieses Vorgehen als Evidenz-Synthese bekannt.

Sie planen bereits eine weitere Studie zur Therapie des Alport-Syndroms. Worum geht es dabei?

Nach fünf Jahren Planungsarbeit haben wir gerade eine weitere industrieunabhängige klinische Studie gestartet, die Double-Protect-Alport-Studie. Sie wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und knüpft an unsere erste Studie an. In der Studie werden die Wirksamkeit und Sicherheit eines weiteren nierenschützenden Medikamentes bei Kindern untersucht. Die Wirkstoffgruppe ist bereits für die Therapie von Nierenerkrankungen bei Erwachsenen zugelassen – in Amerika sogar für übergewichtige, nierenkranke Katzen.

Sollte das Medikament auch bei nierenkranken Kindern sicher angewendet werden können und wirken, könnte es zukünftig die Therapie mit Ramipril sinnvoll ergänzen und das Fortschreiten der Erkrankung noch weiter hinauszögern. Einige Kinder werden dadurch gar nicht mehr an die Dialyse müssen, ein großer Erfolg der Gesundheitsforschung des BMBF und ein Beleg für ihre Nachhaltigkeit.

Vielen Dank für das Gespräch.