23.04.2025

| Aktuelle Meldung

Alternativen zum Tierversuch – mehr als nur Ersatz

Alternativmethoden zum Tierversuch sind nicht nur aus ethischer, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht oft die bessere Wahl. Zum Tag des Versuchstiers geben zwei junge Forscherinnen Einblicke in den aktuellen Stand der Forschung.

Organ-on-Chip-Systeme

Hightech statt Tierversuche: Organ-on-Chip-Systeme simulieren menschliche Organfunktionen im Miniaturformat und ermöglichen somit tierversuchsfreie Forschung unter realitätsnahen Bedingungen. 

3R-Center Tübingen

Was hat Sie persönlich motiviert, sich mit Alternativmethoden zum Tierversuch zu beschäftigen?

Dr. Elena Kromidas: Mich motiviert insbesondere das wissenschaftliche Potenzial, das darin steckt. Komplexe, humanbasierte Modelle wie Organ-on-Chip-Systeme können eine deutlich höhere Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen ermöglichen und damit die Relevanz und den Nutzen der Forschung erheblich steigern. Häufig wird übersehen, dass Alternativmethoden nicht nur Ersatz-, sondern auch wertvolle Ergänzungsmethoden darstellen. Sie eröffnen die Möglichkeit, wissenschaftliche Fragestellungen zu beantworten, die im Tiermodell nicht oder nur unzureichend untersucht werden können und erweitern damit den Erkenntnisgewinn weit über bisherige Ansätze hinaus. Neben den ethischen Aspekten ist es vor allem dieses wissenschaftliche Potenzial, das meine Motivation und meine Arbeit prägen.

„Internationaler Tag des Versuchstiers“ am 24. April

Der Internationale Tag des Versuchstiers soll auf den Einsatz von Tieren in der Forschung aufmerksam machen – und rückt gleichzeitig zunehmend auch die Entwicklung von Alternativmethoden zu Tierversuchen in den Fokus. Forschung an und mit Tieren hat in vielen medizinischen und wissenschaftlichen Bereichen zu wichtigen Fortschritten beigetragen. Zugleich arbeiten Forschende intensiv an Methoden mit dem Ziel, die Zahl der Tierversuche zu reduzieren oder sogar zu ersetzen. Dazu zählen unter anderem Zellkulturmodelle, Computersimulationen sowie innovative Technologien wie Organ-on-Chip-Systeme, die menschliche Organfunktionen im Miniaturformat nachbilden. Der Internationale Tag des Versuchstiers dient somit nicht mehr allein der ethischen Reflexion, sondern bietet auch einen Anlass, den Fortschritt in der Entwicklung innovativer, tierversuchsfreier Methoden sichtbar zu machen.

Was genau versteht man unter Alternativmethoden – und wie können sie Tierversuche ersetzen oder ergänzen?

Dr. Silke Riegger: Unter dem Begriff „Alternativmethoden zu Tierversuchen“ versteht man grundsätzlich alle Methoden, Modelle und Ansätze, die wissenschaftliche Fragestellungen mithilfe artifizieller Systeme beantworten – anstelle sie am lebenden Tier zu untersuchen. Diese Methoden können zum einen als klassische Ersatzmethoden einzelne Aspekte einer Forschungsfrage ohne den Einsatz lebender Tiere beantworten und somit Tierversuche im klassischen Sinne reduzieren oder vollständig ersetzen. Zum anderen können sie als sogenannte Ergänzungsmethoden völlig neue Möglichkeiten eröffnen, um humanrelevante Daten zu generieren, wo bislang keine geeigneten Tiermodelle zur Verfügung standen oder die Übertragbarkeit auf den Menschen nicht gegeben ist. Dazu zählen neben Organ-on-Chip-Modellen auch Organoide oder Computer-Modelle. Solche Systeme haben das Potenzial, die Anzahl der Tierversuche – etwa in der biomedizinischen oder pharmazeutischen Forschung – deutlich zu senken.

Dr. Elena Kromidas

Dr. Elena Kromidas leitet das 3R-Center Tübingen, in dem sich Akteurinnen und Akteure aus der biomedizinischen Alternativmethoden-Forschung zusammengeschlossen haben. 

3R-Center Tübingen 

Sie arbeiten beide mit so genannten Organ-on-Chip-Systemen. Was kann man sich darunter vorstellen?

Kromidas: Das sind kleine Plattformen, die lebende Substrukturen von Organen in eine kontrollierte Mikroumgebung integrieren. Sie sind in der Lage, einen oder mehrere Aspekte des Organs nachzubilden. So können komplexe humanbiologische Prozesse außerhalb des menschlichen Körpers physiologisch simuliert werden. Durch die in die Chips integrierten kleinen dreidimensionalen Kammern und Kanäle im Mikrometermaßstab sowie spezielle geometrische, mechanische und biologische Eigenschaften und Komponenten kann die natürliche physiologisch Mikroumgebung der Zellen in einem Gewebe imitiert werden.

Dr. Silke Riegger

Dr. Silke Riegger wurde im vergangenen Jahr für ihre Arbeit an Organ-on-Chip-Modellen mit dem renommierten Ursula M. Händel-Tierschutzpreis der DFG ausgezeichnet.

Werbefotografie Patrick Hipp 

Welche Vorteile hat ein Organ-on-Chip-Modell im Vergleich zum klassischen Tierversuch?

Riegger: Diese Modelle basieren auf menschlichen Zellen. Dadurch sind sie in der Lage, die menschliche Physiologie in vielen Aspekten deutlich präziser abzubilden als dies bei Tiermodellen der Fall ist. Die gewonnenen Forschungsdaten lassen sich daher oft deutlich besser auf den Menschen übertragen. Die Unterschiede zwischen Tier und Mensch zeigen sich insbesondere in genetischer Hinsicht, aber auch in Bezug auf die Lebens- und Ernährungsweisen sowie beim Immunsystem. Während Tiere über einen vollständigen, komplexen Organismus verfügen, ermöglichen Organ-on-Chip-Modelle die gezielte Untersuchung spezifischer Aspekte eines Gewebes oder Organs. Ein weiterer Vorteil liegt in ihrer Fähigkeit, Transportprozesse – etwa den Blutfluss – sowie mechanische Belastungen auf die Zellen realistisch zu simulieren. Darüber hinaus ermöglicht die Kombination mehrerer Modelle in einem sogenannten „Multi-Organ-Ansatz“ besonders komplexe Untersuchungen – etwa zu ungewünschten Nebenwirkungen von Medikamenten in anderen Geweben oder Organen. Werden die Gewebeäquivalente im Inneren der Chips mit Zellen individueller Patientinnen und Patienten erzeugt, eröffnen sich zudem in der personalisierten Medizin neue Wege, um Wirksamkeit oder Nebenwirkungen von Therapien gezielt zu untersuchen. Auch wirtschaftlich betrachtet sind diese Systeme vielversprechend: Sie ermöglichen die frühzeitige Identifikation unwirksamer oder toxischer Substanzen, was die Kosten für nachgelagerte Tierversuche und klinische Studien signifikant senken kann.

Gibt es bereits konkrete Beispiele, bei denen Organ-on-Chip-Systeme bereits zum Einsatz kommen – etwa bei der  Medikamentenentwicklung?

Kromidas: Humane Gewebemodelle wie Organoide und Organ-on-Chip-Systeme finden in der Industrie insbesondere in der Krankheitsmodellierung und der Arzneimittelentwicklung zunehmend Anwendung, etwa im Bereich des Drug Targeting oder zur Prüfung der Wirksamkeit neuer Substanzen. Das Interesse an humanbasierten Modellen ist groß, da sie im Vergleich zu herkömmlichen Tierversuchsmodellen eine deutlich höhere Übertragbarkeit auf den Menschen erwarten lassen. Entsprechend investieren viele Pharmaunternehmen gezielt in diesen innovativen Forschungsbereich. Auch in der klinischen Praxis zeichnen sich erste Anwendungen ab: So werden beispielsweise patientenabgeleitete Organoide genutzt werden, um personalisierte Therapieentscheidungen in der Onkologie zu unterstützen. Zwar gehören diese Modelle noch nicht zum klinischen Standard, doch ihr Potenzial für die Weiterentwicklung der personalisierten Medizin ist erheblich.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Alternativmethoden-Forschung – und was müsste passieren, damit diese noch schneller in die Praxis kommen?

Riegger: Ich würde mir wünschen, dass mehr in die notwendige Infrastruktur investiert werden würde, um Forschenden, insbesondere in der Grundlagenforschung, einen einfachen Zugang zu modernen, humanrelevanten Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu ermöglichen. Ich hoffe, dass in nicht allzu ferner Zukunft eine spezialisierte Einrichtung für humane In-vitro-Methoden genauso zum Inventar einer Hochschule gehört, wie es die versuchstierkundlichen Einrichtungen schon seit Jahrzehnten tun.

Vielen Dank für das Gespräch.

Lange Tradition der Alternativmethoden-Förderung

Schon seit 1980 treibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Suche nach Alternativen zum Tierversuch voran – bislang in mehr als 700 Forschungsprojekten mit einem Fördervolumen von insgesamt rund 240 Millionen Euro. Die geförderten Projekte decken ein breites Spektrum an Ersatzmethoden ab, die auf dem so genannten 3R-Prinzip basieren. Dazu zählen Testverfahren, die Tierversuche entweder vollständig ersetzen (Replacement) oder – falls dies nicht möglich ist – die Anzahl der verwendeten Tiere reduzieren (Reduction) bzw. das Leiden der Tiere verringern können (Refinement).

Für eine bessere Vernetzung aller Akteurinnen und Akteure aus Forschung, Industrie und Regulierungsbehörden hat das BMBF zudem Anfang des Jahres 2022 die Vernetzungsinitiative „Bundesnetzwerks 3R“ gestartet. Das Netzwerk soll die Entstehung einer erweiterten Community zur Alternativmethoden-Forschung unterstützen, den Wissenstransfer und den Dialog untereinander stärken und somit den Ausbau der 3R-Forschung weiter voranbringen.

Weitere Informationen:
Alternativmethoden zum Tierversuch und Bundesnetzwerk 3R